- China und das Pusan-Dilemma
Wenn Stalin jeden Gedanken an den Einsatz sowjetischer Truppen in Korea katego-
risch zurückwies, so heißt das nicht, daß die Nordkoreaner einfach ihrem Schicksal
überlassen werden sollten. Es lag vielmehr nahe, auf der Ebene der Asiatisierung des
Konflikts einen weiteren Schritt zu tun und China zur aktiven Hilfe für die Armeen
Kim Il-sungs zu bewegen. Denn ganz im Sinne des - als Hypothese unterstellten -
Kalküls Stalins war China ohnehin schon in den Konflikt hineingezogen worden,
weil der US-Präsident am 27. Juni den Befehl zur Sperrung der Straße von Formosa
erteilt hatte - noch bevor auch nur die geringste Beteiligung Chinas am Geschehen
erwiesen war. Demonstrativ hatte Beijing seinerseits mit Dissoziierung von den Vor-gängen in Korea reagiert, indem es lediglich Sympathie für Nordkorea und Vertrau-
en in die Völker Asiens beim Abwehrkampf gegen den US-Imperialismus bekundete.
Um die chinesische Haltung zu erläutern, ist es nötig, die Einbeziehung Beijings in
die Vorbereitung und Durchführung der Aktion zu klären. Fest steht leider nur, daß
Stalin Mao um die Jahreswende 1949/50 in dieser Frage konsultierte. Es ist jedoch da-
von auszugehen, daß der Gedanke einer gewaltsamen Einigung Koreas den Chinesen
um diese Zeit schon nicht mehr fremd war. Diese Feststellung ist nicht einmal davon ab-
hängig, ob der angeblich im März 1949 insgeheim abgeschlossene Verteidigungspakt
zwischen den chinesischen Kommunisten und den Nordkoreanern wirklich existier-
te96, ebensowenig davon, ob Kim sein Vorhaben tatsächlich ursprünglich mit chinesi-
scher Unterstützung hatte durchführen wollen97. Beides läßt sich nach heutigem
Kenntnisstand weder schlüssig beweisen noch widerlegen. Sicher ist jedoch, daß Bei-
jing ebenso wie Moskau genügend Informationskanäle besaß, um von eventuellen Plä-
nen Pyongyangs Kenntnis zu erhalten, zumal da ein militärischer Alleingang offen-
kundig nicht in Frage kam. Außerdem ist es im Hinblick auf die möglichen
Konsequenzen undenkbar, daß Moskau die chinesischen Kommunisten über ein beab-
sichtigtes Vorgehen in Korea völlig hätte im unklaren lassen können. Kontakte auf ho-
her Ebene hatte es 1949, also schon vor Maos Besuch, mehrfach gegeben: So waren et-
wa Liu Shaoqi und Gao Gang im Sommer in Moskau gewesen, Mikojan und andere
sowjetische Vertreter bei der chinesischen Führung98.
Ob und inwieweit Korea bei diesen Treffen Verhandlungsgegenstand war, bleibt
jedoch offen. Die einzige bekannte Quelle, die inhaltliche Aussagen über sowjetisch-
chinesische Korea-Konsultationen macht, sind die Erinnerungen Chruscevs. Sie
schildern allerdings einen Korea-Dialog von bemerkenswerter Harmlosigkeit zwi-
schen Stalin und Mao. Danach hat Stalin Mao erstens gefragt, wie er „grundsätzlich
zu dieser Aktion" stehe, und zweitens: „Mischen sich die Vereinigten Staaten ein oder
nicht?" Mao habe sich positiv zu Kims Plänen geäußert und „auch die Ansicht vertreten, daß die Vereinigten Staaten sich vermutlich nicht in diese ... innere Angelegen-
heit, die vom koreanischen Volk selbst geregelt wird, einmischen werden"99.
Abgesehen von der Schlichtheit, in der hier ein Gespräch von weitreichenden Kon-
sequenzen wiedergegeben wird, ist zunächst einmal darauf hinzuweisen, daß diese
Schilderung das Korea-Problem gänzlich aus dem Gesamtzusammenhang der Ver-
handlungen zwischen Mao und Stalin herauslöst. Infolgedessen sind herkömmliche
Betrachtungsweisen durch diese neue Quelle eher noch verfestigt worden100. Der
gleiche Effekt ergibt sich aus Maos eigenen Rückblicken auf seine damaligen Ausein-
andersetzungen mit Stalin: Er beschwört zwar mehrfach seinen zähen Einsatz für die
Rückgewinnung der „Kolonien", Mandschurei, Sinkiang und Äußere Mongolei, er-
wähnt aber in diesem Zusammenhang bezeichnenderweise die Faktoren Taiwan, Ti-
bet und Korea mit keinem Wort, ebensowenig sonstige wirtschaftliche und politische
Differenzen, sieht man einmal vom Titoismus-Vorwurf Stalins ab101.
Tatsächlich jedoch können Maos Erwägungen hinsichtlich der Korea-Frage nur in
ihrer Verknüpfung mit jenen anderen Faktoren erschlossen werden, und zwar auf
dem Hintergrund einer von Skepsis und Wachsamkeit geprägten Verhandlungsatmo-
sphäre, in der nichts vereinbart wurde, was nicht sorgfältig auf seine möglicherweise
nachteiligen Konsequenzen hin geprüft worden war, wie aus dem Bericht Wu Xiu-
quans hervorgeht102. Nicht isoliert, sondern nur im Rahmen der in Moskau gespielten
Go-Partie, eines Interessen-Geschiebes, in dem Großmut nicht aufkam und beider-
seits auch nicht erwartet wurde, kann Maos Ja zu Korea angemessen bewertet wer-
den.
Theoretisch hätte Mao auch negativ auf Stalins „Anfrage" reagieren können, aber
das hätte ausgerechnet Stalin in die Lage versetzt, ihn, der die USA im eigenen Befrei-
ungskampf entgegen sowjetischen Warnungen jahrelang als „Papiertiger" eingestuft
hatte, des Zauderns zu bezichtigen. Eine Warnung Maos vor drohendem Eingreifen
der USA wäre zudem als Sorge um die separaten Verständigungsmöglichkeiten zwi-
schen Beijing und Washington auszulegen gewesen und hätte zweifellos Stalins un-verhohlen geäußerten und von den amerikanischen Medien nach Kräften geförder-
ten Titoismus-Verdacht erhärtet103.
Ein Nein zu Korea, begründet mit der Bedrohung durch die USA, hätte zudem aus
chinesischer Sicht den Nachteil gehabt, der Sowjetunion einen Vorwand für die Ver-
legung zusätzlichen militärischen „Schutzes" nach China zu liefern104, ganz zu
schweigen davon, daß man sich des Anspruchs auf eine militärische Lösung der Tai-
wan-Frage beraubt hätte. Das Argument drohender US-Intervention, im Hinblick
auf Korea verwendet, hätte sich geradezu automatisch gegen die beabsichtigte Inva-
sion in Taiwan umgekehrt. Das war insbesondere deshalb von Bedeutung, weil die In-
vasion, sollte sie in absehbarer Zeit erfolgen, auf militärische Unterstützung durch die
Sowjetunion angewiesen war.
Mit dem Ja hingegen hielt man Optionen wenigstens offen, auch wenn die Gefähr-
dung, wenn nicht sogar Zurückstellung des für den Sommer geplanten Taiwan-Un-
ternehmens mit der Zustimmung zu Korea in Kauf genommen wurde bzw. werden
mußte. Denn es ist davon auszugehen, daß Mao und die chinesische Führung sich
über die Funktion des „unbefreiten" Taiwan und damit über die Abfolgelogik des so-
wjetischen Kalküls ganz im klaren waren. Das steht nur in scheinbarem Widerspruch
zur Fortsetzung der innerchinesischen Mobilisierungs-Propaganda sowie der militä-
rischen Invasionsvorbereitungen in der ersten Jahreshälfte 1950. Die chinesische Öf-
fentlichkeit durfte von einem möglichen Verzicht nichts erfahren: Weil die Glaub-
würdigkeit des Kommunisten Mao als Patriot bei skeptischen Schichten der
Bevölkerung keineswegs gefestigt war, mußte die Erwartung der bevorstehenden Be-
freiung Taiwans aufrechterhalten werden105.