Welchem Projekt erteilte Stalin im März 1950 sein Plazet? In krassem Kontrast zu
allen bisher selbstverständlichen Vorstellungen, denen zufolge die ,Befreiung' ganz
Südkoreas in einer großangelegten militärischen Operation von vornherein beabsich-
tigt war, muß davon ausgegangen werden, daß ursprünglich ein Blitzschlag von be-
grenztem Zuschnitt geplant und vereinbart war: Die nordkoreanischen Streitkräfte
sollten lediglich bis Seoul vordringen72. N u r für diese begrenzte Aktion existierte ein
Operationsplan, der unter der Verantwortung hoher sowjetischer Militärs ausgear-
beitet worden war73. (...)
Umgekehrt ließen sich
aus einer planmäßigen Durchführung der von Kim vorgeschlagenen Operation hin-
sichtlich Chinas sogar positive Effekte ableiten. Erstens wäre das seit dem 19.Jahr-
hundert zwischen Rußland und China umstrittene Korea dann auf absehbare Zeit
dem chinesischen Zugriff entzogen worden, und zweitens hätte ein geeintes, sowje-
tisch kontrolliertes Korea strategische Schlüsselfunktion gegenüber China gewon-
nen - nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich81.
Darüber hinaus ist jedoch davon auszugehen, daß das Taiwan-Problem einen we-sentlichen Ansatzpunkt für das Stalinsche bzw. sowjetische Kalkül bot (...)
Zweitens durfte man aus den jüngsten Erfahrungen des Ost-West-
Konflikts folgern, daß auch die Vereinigten Staaten bei einem Gegenzug zunächst ein-
mal die Chance nutzen würden, der militärischen Konfrontation mit der Sowjetunion,
und sei sie nur indirekt, aus dem Weg zu gehen. Auch unter diesem Aspekt bot sich Tai-
wan als Reaktionsfeld an. Schließlich sprachen außerdem die militärischen Gegeben-
heiten dafür, daß die USA zugunsten Taiwans eingriffen. Dort hatte man noch eine Ba-sis und konnte sich gegen eine mögliche bevorstehende Aggression auf die einsatzbe-
reite Flotte stützen. In Korea hingegen hätte unter viel ungünstigeren Voraussetzungen
ein Krieg zu Lande, vielleicht sogar von See aus, geführt werden müssen.
Eine umgekehrte Abfolge, d. h. die Einnahme Taiwans vor der Seoul-Operation,
hätte dagegen das sowjetische Kalkül auf mehrfache Weise durchkreuzt: Sie hätte au-
tomatisch das Prestige Chinas und nicht das der Sowjetunion gemehrt, Taiwan hätte
als Folge der Eingliederung in die Volksrepublik seine Qualität als „Blitzableiter" ver-
loren, das Aufschrecken der Vereinigten Staaten mußte das Risiko einer anschließen-
den Aktion in Korea um ein Vielfaches erhöhen.
Die aus Moskauer Sicht allein akzeptable Abfolge „Korea - Taiwan" war mithin
geeignet, China von zwei Seiten her unter Druck zu setzen und die Gefahren des chi-
nesischen „Titoismus" einzudämmen: Gesetzt den Fall, daß sich die öffentlichen Be-
kundungen amerikanischen Desinteresses jenseits des verengt abgesteckten „defense
perimeter" bewahrheiten sollten, so wäre der Korea-Coup reibungslos aufgegangen
und Stalins Asien-Autorität für die Eingeweihten wiederhergestellt bzw. für die Welt
eindrucksvoll unterstrichen worden. Eine nachfolgende Eroberung Taiwans hätte
dann weniger als eigenständiger Erfolg Chinas denn als Schlußstrich unter die Ei-
nung und Konsolidierung des Sowjetblocks gewirkt, ganz zu schweigen von den
Auswirkungen eines sowjetischen Festsetzens auch in Südkorea auf die chinesische
Bewegungsfreiheit. Gesetzt aber den Fall, die Amerikaner würden doch in Ostasien
ihre bislang praktizierte Disengagement-Politik revidieren, so sprach viel dafür, daß
China das direkte Opfer dieser Kehrtwendung würde.
Diese Überlegungen mögen Stalin dazu bewogen haben, das von ihm gesehene Ri-
siko einer amerikanischen Reaktion nicht nur billigend, sondern möglicherweise so-
gar absichtlich in Kauf zu nehmen.(...)
Tatsächlich scheint weder Stalin noch irgendein anderer Angehöriger der So-
wjetführung mit der tatsächlichen Möglichkeit einer bedrohlichen Intervention der
Vereinigten Staaten in Korea gerechnet zu haben87.