- Hauptspannungsquellen lagen zweifellos in den für die damalige sowjetische Poli-
tik maßgeblichen China-Vorstellungen. Soweit sie sich erschließen lassen, sollte Chi-
na im Rahmen der damals gültigen Block-Konzeption eine quasi-subsidiäre Rolle
übernehmen: Als Agrarland wurde ihm in erster Linie die Aufgabe zugedacht, die So-
wjetunion mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu beliefern; außerdem hatte Stalin
offenbar die chinesischen Rohstoffreserven im Blick57. Die Sowjetunion sollte weiter-
hin das Zentrum der Schwerindustrie im Block bilden, auf das sich die Wirtschafts-
strukturen der verbündeten Länder auszurichten hätten.
Ein weiteres, wichtiges Motiv für dieses Arbeitsteilungskonzept bestand in der un-
ausgesprochenen Absicht, eine umfassende Industrialisierung Chinas so weit wie
möglich zu verhindern, denn darin hätte auf lange Sicht der Keim einer militärischen
Bedrohung der Sowjetunion liegen können58. Das war der Hauptgrund für das hart-
näckige Bestreben der Sowjetführung, ihren bestimmenden Einfluß in der Mand-
schurei, Chinas Industrieschwerpunkt, aufrechtzuerhalten. Denn gerade gegenüber
der jetzt geeinten Volksrepublik muß eine unterschwellige Sorge wirksam gewesen
sein, die von der Vorstellung eines grundlegend modernisierten China mit seinen im-
mensen Menschenmassen ausging. Gegenüber dem Sohn Tschiang Kai-sheks hatte
Stalin 1945 diese Befürchtung mit der Bemerkung anklingen lassen:
„Sie sagen, China besitze nicht die Kraft für einen Angriff auf Rußland. Gegenwär-
tig trifft das zu. Aber China braucht nur einmal die Einigung zu gelingen, dann
wird es raschere Fortschritte machen als irgendein anderes Land."59
Auch auf der Konferenz von Jalta hatte Stalin sich über China in einer Weise geäu-
ßert, die vielleicht mehr Ernst barg, als die scherzhafte Atmosphäre ahnen ließ, in der
diese Äußerung fiel. Nach den Aufzeichnungen von Alger Hiss reagierte er auf die Warnung Churchills, den drei Großmächten könnte Streben nach Weltherrschaft
vorgeworfen werden, mit den Worten:
„I don't know any great power which would have intention to be master of world
. . . I ́m sure Mr. C(hurchill) & Britain doesn't want domin(ate). I'm sure US hasn't
opin(ion) of this kind. USSR hasn't. There remains only one power. China."60
Der Logik des sowjetischen Konzepts für China erwuchs die Verpflichtung zum
militärischen Schutz des Verbündeten. Dieser Schutz stellte zugleich das Hauptele-
ment einer mehrschichtigen Kontrollstrategie dar: Sowjetische Militärpräsenz an den
Grenzen und auf dem Territorium Chinas war - wie bei den osteuropäischen Verbün-
deten der Sowjetunion - immer außengerichteter Abwehrschild und binnengerichte-
tes Kontrollinstrument in einem. Die technologische Abhängigkeit Chinas bzw. ent-
sprechend dosierte Unterstützung ließ sich also in einer Doppelfunktion wirksam
machen. Schließlich konnten auch die sowjetischen Spezialisten als gleichsam kon-
trollierende Berater tätig sein, wobei „Kontrolle" in diesem Sinne nicht als bloße
Überwachung mißverstanden werden darf. Es handelte sich vielmehr in erster Linie
um anleitende Hilfe, die allein und von innen heraus die Verwirklichung des vorgege-
benen China-Konzepts der Sowjetunion sicherstellen konnte und sollte.
Über die Kontrolle der inneren Entwicklung hinaus mußten auch die außenpoliti-
schen Spielräume Chinas vorsorglich beschränkt werden, um die Chancen einer
Emanzipation von sowjetischer Bevormundung möglichst gering zu halten. Die so-
wjetisch-chinesische Allianz vom 14. Februar 1950 entsprang zwar tatsächlich beider-
seitigen Interessen, implizierte aber gerade in der Art, wie vor allem die sowjetischen
Medien sie der Welt präsentierten, auch die Intention, die Volksrepublik China und
die Vereinigten Staaten auf Abstand voneinander zu halten. In beiden Ländern hatte
man nämlich besorgnisserregende Anzeichen gegenseitiger Verständigungsbereit-
schaft zu erkennen geglaubt61.
Besonders hervorzuheben ist, daß Wu Xiuquan bei seiner Schilderung der chine-
sisch-sowjetischen Verhandlungen Ende 1949/Anfang 1950 die Bedeutung dieses
Aspekts ausdrücklich bestätigt:
„Das Neue China war gerade zwei Monate alt. Die Sowjetunion betrachtete die
chinesischen Verhältnisse skeptisch, insbesondere die Richtlinien und die Politik.
Da wir in der Vergangenheit nicht auf falsche Ideen der Komintern bzw. Stalins ge-
hört hatten, schöpfte Stalin den Verdacht, China wolle den Weg Jugoslawiens'ein-schlagen; wegen der Teilnahme einiger demokratischer Parteien und parteiloser
Demokraten an der Regierung Chinas befürchtete die Sowjetunion, China könne
eine probritische und proamerikanische Linie verfolgen ... Daher war die sowjeti-
sche Haltung uns gegenüber auch in anderen Fragen kühl und skeptisch .. ."62
Von amerikanischer Seite waren mit dem im August 1949 veröffentlichten „China
White Paper" die „versäumten Gelegenheiten" auch noch aller Welt vor Augen ge-
führt worden. In einer solchen Atmosphäre konnte nicht nur der chinesisch-sowjeti-
sche Freundschaftsvertrag selbst, sondern auch seine groß aufgemachte Präsentation
durchaus abschreckend wirken. In diese Argumentationslinie fügt sich schließlich die
überzeugend belegte These von Simmons, wonach der sowjetische UNO-Boykott ab
Januar 1950 nur vorgeblich die Aufnahme der Volksrepublik China in die Weltorga-
nisation erzwingen, tatsächlich jedoch die Tür versperrt und China weiterhin in au-
ßenpolitischer Isolation halten sollte63.
All diese Hintergründe sind gemeint, wenn M a o später vor KP-Funktionären be-
klagte, Stalin habe 1949/50 starken Druck auf ihn ausgeübt, weil er in ihm einen asia-
tischen Tito sah64. Ergänzend wird aus internen sowjetischen Quellen berichtet:
„Über seine Gespräche mit I.V. Stalin 1949 in Moskau sagte Mao, daß die allgemei-
ne Tendenz der gegen ihn erhobenen Vorwürfe dahin ging, daß der Kommunismus
in China nationalistisch sei, daß Mao nationalistische Neigungen habe, obwohl er
Kommunist sei. Stalin drückte den Worten Maos zufolge die Befürchtung aus, daß
der Rückfall in den Nationalismus in China gefährliche Folgen zeitigen könne. Sta-
lin mißtraute uns, meinte Mao, für ihn stand hinter uns ein Fragezeichen ... "65
Den gleichen, aus den Worten Maos hervorgehenden Tatbestand meinte schließ-
lich auch Chruscev in einer Rede, die er Mitte März 1956 anläßlich der Beisetzung
Bieruts vor ausländischen KP-Führern in Warschau hielt. Trotz der denunziatorisch
übertreibenden Absicht gehen aus ihr wesentliche Elemente der China-Vorstellungen
Stalins ebenso hervor wie deren Probleme. Nach einem Bericht der N e w York Times
beschuldigte Chruscev Stalin, „fast einen Bruch in den Beziehungen zwischen der So-
wjetunion und ... China verursacht" zu haben.